zurück blicken- nach vorne schauen

Wir, Patienten der Jugendforensik der Karl-Jaspers-Klinik, haben an dem Projekt der Gedenkstätte Wehnen zum Thema „75 Jahre Demokratie in Niedersachsen“ teilgenommen.

Eine Woche lang haben wir uns intensiv mit den Geschehnissen und Verbrechen beschäftigt, die während des Nationalsozialismus in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, der heutigen Karl-Jaspers-Klinik, verübt wurden.

Mit einem anderen Blick betrachteten wir dann die alten Gebäude auf dem Klinikgelände, die heute immer noch stehen.

Wir beschäftigten uns mit den Einzelschicksalen einiger forensischer Patienten und einer Patientin und nahmen das zum Anlass, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu besuchen.


Podcast: zurück blicken, nach vorne schauen

Vielen Dank an das Team von Oldenburg Eins für die Produktion dieses Podcasts!


Auseinandersetzung mit Lageplänen der Klinik von 1912 & 2021

Gegenüberstellung: 1930er Jahre – heute



Erinnern an die,
die vergangen sind. 
Das einzelne Schicksal  
wiegt schwer 
auf den Schultern  
der Verantwortlichen. 
Jedes von ihnen 
ist ein Stein  
im großen Mosaik 
der Vergangenheit. 


Verantwortung für die 
Vergangenheit übernehmen. 
Die Bürger wie der Staat. 
Für die Taten. 
Für die Fehler. 
Um es in Zukunft besser zu machen. 
Auf dass es sich nicht wiederholt.



Lebenswege forensischer Patient:innen

Emma L.
3.1.1905 -?

Emma wurde am 3. Januar 1905 in Hannover geboren. Gemeinsam mit ihrem Bruder, der mit vier Jahren an Kinderlähmung erkrankte, wuchs sie bei ihren Eltern, Sophie und Georg Vogt, auf.

Emmas Kindheit war von Krankheiten geprägt. Sie besuchte eine Schule, die sie nach der ersten Klasse wieder verließ. Später arbeitete sie kurze Zeit als Hausmädchen, doch die Mutter holte sie wieder zurück.

Mit Mitte 20 gebar sie einen Sohn, doch erst anderthalb Jahre später, um August 1932 heiratete sie den Vater ihres Kindes. In einem amtsärztlichen Gutachten gab Emma L. an, im Jahr 1936 zwangssterilisiert worden zu sein. „Vor Gericht sei sie deshalb nicht gewesen. Der dortige Kreisarzt hätte ihr nur gesagt, sie müsse diesen Eingriff bei sich vornehmen lassen.“ Offensichtlich war Emma – wie viele andere Zwangssterilisierte auch – nicht über das Verfahren beim Erbgesundheitsgericht aufgeklärt worden.

Im gleichen Jahr erlag ihr Vater, der sich bereits 1930 von der Mutter trennte hatte, einem Magenkrebs im Krankenhaus Nordstadt. Emma L. wohnte zu dieser Zeit in Coppenbrügge bei Hameln.

Am 15. November 1941 wurde sie wegen Diebstahls mit Rückfall zu zwei Jahren Zuchthaus im Frauenzuchthaus Lübeck-Lauerhof verurteilt. Denn Emma L. sei öfter beim Raub von Portemonnaien aus Handtaschen erwischt worden. Weil ihr zudem „Schwachsinn mittleren Grades“ diagnostiziert wurde, wurde sie danach in die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen überstellt.

Laut Einträgen von Dr. Petri musste Emma in der Anstalt Kartoffeln schälen, dabei sei sie verhältnismäßig arbeitsam und fleißig gewesen und habe ständig auf Entlassung gedrängt. Für den 17. April 1944 steht in der Krankengeschichte, dass Emma Lange weiterhin nicht einsichtig und nur unter Druck einigermaßen brauchbar gewesen sei und nun ins KZ-Frauenlager Ravensbrück verlegt werde.

Neun Tage nach ihrer Deportation schrieb die Mutter einen Brief an den Anstaltsdirektor Carl Petri. In diesem bittet sie ihn ihre Tochter zu entlassen. Er antwortete darauf nur, dass sie sich zur Auskunft über ihre Tochter an den Oberstaatsanwalt wenden soll.

Emma L. überlebte das KZ. Denn im Jahr 1949 wandte sich der Kreissonderhilfsausschuß Hameln-Pyrmont an die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen und teilte mit, dass Emma H. – in der Zwischenzeit hatte sie erneut geheiratet – die Anerkennung als politisch Verfolgte beantragt hat. Der neue Anstaltsdirektor Dr. Köhler, der sich zu den Gründen der „Überstellung“ äußern soll, schreibt daraufhin nur Belastendes über die Patientin, aber nichts Kritisches zu den Handlungen in der damaligen Anstalt.

NLA OL Rep 635 Akz. 35/1997 Nr. 7779

August B. 
9.8.1887 – 19.3.1945

August B. wurde am 9. August 1897 in Jaderberg geboren. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen am 26. Oktober 1937 war er geschieden und Vater von zwei Mädchen.

August hatte eine gute Bildung, eine unabgeschlossene Schuhmacherausbildung und seinen Kriegsdienst hinter sich. Drei Jahre war er in Kriegsgefangenschaft gewesen. Da Trunksucht und Krankheitssymptome nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft auftraten, können wir heute vermuten, dass er aufgrund seiner Erlebnisse im Krieg und in der Gefangenschaft traumatisiert war. 

Zwischen 1915 und 1935 wurde August B. mehrfach zu Geldbußen und  Gefängnisstrafe wegen Betrugs und Diebstahls verurteilt. Im Jahr 1936 erhielt er eine einjährige Gefängnisstrafe. Im Anschluss daran wurde er aufgrund eines richterlichen Beschlusses am 12. Februar 1937 in die Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück eingewiesen. Im Zuge einer Eingemeindung wurde er am 26. Oktober in die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen zur Sicherheitsverwahrung überführt.

In den Anstalten Osnabrück und Wehnen wurden ihm Trunksucht und Psychopathie diagnostiziert. August fiel dem Personal während des Aufenthaltes vor allem durch aufwieglerisches Verhalten und wenig Arbeitsleitung auf.

Mehrfach beschwerte August B. sich über die mangelhafte Ernährung. In einem Fall wurde er – nachdem er sich bei dem Anstaltsleiter Dr. Carl Petri über die schlechte Versorgung beschwerte – für ein halbes Jahr in die Isolierzelle gesperrt.

Seine Mutter bemühte sich mehrfach ihren Sohn freizubekommen und seinen Aufenthalt in Wehnen durch Pakete mit Essen, Kleider und Tabak zu verbessern. Dennoch gab Dr. Petri in einem Gutachten an, dass auch die Eltern sich gegen eine Entlassung ausgesprochen hätten. Und das, obwohl er ein Jahr vorher noch eine Entlassung in Aussicht gestellt hatte.

Obwohl Dr. Petri das Senden der Pakete die ersten Jahre zu tolerieren schien, verbat er dies plötzlich im Jahr 1942 mit der Begründung, dass er es unrealistisch fand, dass eine siebenköpfige Familie in Kriegszeit so viel zu erübrigen hatte und das für einen “minderwertigen Psychopathen“. Die Familie wurde sogar von ihm bei dem Polizeipräsidenten angezeigt, weil er vermutete, dass sie unrechtmäßig an Lebensmittelkarten gekommen waren.

Als letzter Vermerk in der Krankheitsgeschichte – nach sieben Jahren Aufenthalt in Wehnen ohne Behandlung –  ist zu lesen: „B. ist bis zuletzt auf der Abteilung untätig gewesen, wird heute nach dem Konzentrationslager Neuengamme überstellt.“

Dort starb er am 19. März 1945, laut Eintrag ins Totenbuch des Konzentrationslagers, an Lungenentzündung.

NLA OL Rep 635 Akz. 35/1997 Nr. 6389

Hermann D.
30.12.1909 / nach dem Krieg verschollen

Hermann Josef D., geboren am 30. Dezember 1909, kam aus der Nähe von Köln. Dort besuchte er eine Kaufmannshandelsschule. Seine Eltern besaßen ein Manufakturwarengeschäft und Herrenkonfektionsgeschäft. Er wurde Chorsänger und arbeitete im Staatstheater Oldenburg. Anfang des Jahres 1941 wurde er als Soldat in die Wehrmacht einberufen. Aufgrund der Verweigerung eines Befehls wurde er am 27. Januar 1942 wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zu Tode verurteilt. Worum es sich bei diesem Befehl handelte, wird nicht erläutert. Es wird lediglich deutlich, dass es sich dabei um einen Koffer handelte, den er nicht tragen wollte oder konnte.

Um das Todesurteil abzuwenden, legte die Mutter eine Bescheinigung über einen früheren Anstaltsaufenthalt vor. Ihr Sohn war 1932 in der Heil- und Pflegeanstalt Ensen wegen Schizophrenie behandelt worden. Die Verurteilung zum Tod wurde daraufhin zurückgezogen, statt dessen wies man Hermann D. in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn bei Hamburg ein. Von dort wurde er in die Landespflegeanstalt Meseritz-Obrawalde (im heutigen Polen) überstellt. Am 10. Juni 1943 verlegte man ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen.

Für die ersten Monate seines Aufenthaltes in Wehnen vermerkten die Ärzte, dass er „zurechnungsfähig“ war und dass die Möglichkeit bestand, ihn demnächst zu entlassen. Einige Monate später, nachdem sein engagierter Vormund und die Familie erst in der Anstalt und dann vor Gericht eine Entlassung erwirken wollten, änderte sich die Meinung des Anstaltsdirektors Carl Petri. In einem Gutachten für das Gericht, stellte er für Hermann D. zwei Möglichkeiten in Aussicht: Entweder muss – wenn er nicht psychisch krank ist – die Todesstrafe durchgeführt werden oder wenn er psychisch krank ist, muss er vor einer Entlassung – die er nicht befürwortete – „unfruchtbar“ gemacht werden.

Offensichtlich befürchtete Hermann D., dass Anfang des Jahres 1944 sein Gerichtsverfahren zur Zwangssterilisierung im Raum stand. Denn am 23. Februar desselben Jahres schreibt er einen Brief an das Erbgesundheitsgericht. Dass der Brief heute in der Krankenakte zu finden ist beweist, dass der Brief nicht weitergeleitet wurde. In diesem Brief beschwert er sich auch über die Zustände in der Anstalt. Er schreibt, dass er keine Musik hören durfte, denn dies – so schreibt er weiter – war für die auf dem Feld arbeitenden Patienten vorbehalten. Zudem sei er kaum an die frische Luft gelassen worden. „Sind wir denn überhaupt keine Menschen?“

In seiner Krankengeschichte ist zu lesen, dass er „zu irgendeiner Arbeitsverrichtung nicht mehr willig“ sei. Vermutlich war dies der Grund,  warum ihn der Anstaltsdirektor Karl Petri ins KZ „überstellte“. Am 17. April 1944 wurde er zusammen mit vier weiteren Patienten ins KZ Neuengamme deportiert. Einen Tag später schrieb die Mutter einen Brief an Dr. Petri und erkundigte sich nach ihrem Sohn. Carl Petri erwiderte darauf nur, dass er verlegt wurde und sie sich bei Bedarf an den Oberstaatsanwalt Oldenburg wenden soll.

Außer einer Häftlingskarte, die belegt, dass Hermann D. ins KZ Neuengamme am 17.April 1944 aufgenommen wurde, gibt es keinen Hinweis über seinen weiteren Verbleib. Hermann D. galt nach dem Krieg als verschollen. Vermutlich ist er – wie viele andere KZ-Häftlinge auch – in den letzten Kriegstagen auf einem der Todesmärsche umgekommen. 

NLA OL Rep 635 Akz. 35/1997 Nr. 7752

[metaslider id=“4089″]


[metaslider id=“4017″]


Wir bedanken uns bei unseren Förder- und Kooperationspartnern!


Das Projekt wurde gefördert durch das Niedersächsische Kultusministerium im Rahmen des Projektaufrufs „75 Jahre Demokratie in Niedersachsen: Alles klar!?“ 2021


Der Podcast ist entstanden in Zusammenarbeit mit Oldenburg Eins- TV & Radio